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Leseprobe

Vorwort

„Tassilo, das kann nicht dein Ernst sein! Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mit deinen verrückten Plänen durchkommen wirst, und irgendwer auf dich hereinfallen wird?“

„Doch mein lieber Broderik, genau das glaube ich. Wenn ich es recht bedenke, bist du Esel bereits darauf hereingefallen. Broderik der Menschenfreund. Broderik der Edelmütige. Sieh wohin dich dein großes Herz gebracht hat. Gefesselt, entmachtet, armselig!“
Aufgeregt wippte der kleinwüchsige Mann in seinen roten Schnabelschuhen auf und ab und musterte schelmisch grinsend sein zum Paket verschnürtes Opfer.
„Tassilo um unserer Freundschaft Willen, du kannst mich hier nicht so liegen lassen!“, schluchzte Broderik mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Freundschaft, Freundschaft“, wiederholte Tassilo in monotonen Singsang und schnitt dem am Boden liegenden Jungen eine höhnische Grimasse.
„Ich kann deine Freundschaft momentan beim besten Willen nicht gebrauchen. Ich brauche Rosinenkuchen und ich weiß auch schon wo ich ihn bekommen werde.“
Broderiks` Augen weiteten sich. „Du willst doch nicht etwa, du kannst doch nicht…“
„Sei still!“, schnitt ihm der Kleinwüchsige das Wort ab, „oder ich vergesse meine guten Vorsätze und lasse dich hier elendig verenden.“

Tassilo beugte sich über das unförmig verschnürte Bündel und lockerte die Knoten.
„So mein Lieber, das wäre erledigt. Deine Fesseln sind gelockert und du wirst alle Zeit dieser Erde haben, um dich zu befreien. Falls du das Bedürfnis verspürst nach Hilfe zu rufen, so kann ich dir um unserer Freundschaft Willen nur davon abraten. Es wird dich niemand hören. Also spar dir deine Kräfte, du wirst sie noch dringend brauchen.“

„Tassilo“, rief Broderik mit zittriger Stimme, „sag mir, dass dies nur ein schlechter Scherz ist und du mich jetzt gleich befreien wirst. Ich vergesse die ganze Geschichte und wir gehen wie immer gemeinsam nach Hause.“
Tassilo setzte eine beleidigte Miene auf.
„Mein Freund, ich mache keine schlechten Scherze!“
„Aber ich bin doch viel zu schwach um mich zu befreien. Ich werde verdursten oder erfrieren.“
„Papperlapapp mein Kleiner, dir wird schon etwas einfallen. Du musst nur deiner Phantasie freien Lauf lassen!“
Broderik starrte ihn sprachlos an. Tassilo brach in schallendes Gelächter aus und schlenderte breit grinsend in Richtung Ausgang. Neben der schweren Eingangstüre stand eine schwach flackernde Kerze am Boden.
„Ich bin kein Unmensch und werde die Kerze stehen lassen“, flüsterte er in sanftem Ton.

„Ich weiß doch, dass du dich im Dunklen fürchtest.“
Mit einem letzten beinahe zärtlichen Blick öffnete der Kerkermeister die Holztüre und warf sie mit Schwung hinter sich ins Schloss. Augenblicklich erlosch die Kerze.