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Hasenjagd

Freitagnachmittag und mein Stimmungsbarometer schwankte zwischen hoffnungsvoll und absolut trostlos. Im Grunde war ich immer eine Frohnatur. Doch zum damaligen Zeitpunkt machten mir meine jugendlichen Probleme schwer zu schaffen. Einerseits fehlte mir meine ganz persönliche berufliche Zukunftsperspektive. Schon 18 Jahre alt und immer noch nichts Ordentliches gelernt. Was sollte aus mir Mädchen nur werden? Andererseits nagte die Einsamkeit am meinem Gemüt. Junge dynamische Frau sucht Traumprinz. Pferd nicht unbedingt nötig. Doch die Prinzen waren alle auf Drachenjagd und so musste ich mich mit flüchtigen Jungs für eine Nacht begnügen.
Ich öffnete die vertraute, schwere Holztüre und betrat meine Lieblingskneipe. Es war mir egal, dass ich wieder einmal einen sommerlichen Spätnachmittag aussperrte. Hier herrschte immer dieselbe Jahreszeit. Ich atmete entspannt ein. Die Luft war erfüllt vom Bierdunst vieler durchzechter Nächte. Oder war es nur das Weizen, das Karl tags zuvor quer über ein neubezogenes Sitzpolster geschüttet hatte. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und beobachtete einen Moment lang einen tapferen Sonnenstrahl, der sich trotz der nikotinverklebten Fensterscheiben seinen Weg gebahnt hatte. Dicke Staubflusen tänzelten in seinem Schein umher und sanken sanft zu Boden. In einer Ecke saßen bereits Moni und Karl. An der Theke stand Hörbi der Wirt und würfelte mit den üblichen Verdächtigen. Er schenkte mir ein flüchtiges Lächeln um sich dann wieder den Würfeln zu widmen. Ich steuerte auf den Ecktisch zu und gesellte mich zu meinen Freunden.

„Hi Lippi, cooles Hemd!”, begrüßte mich Moni und musterte meine neuen Klamotten.
“Jepp, war gerade bei der AW. Hemd 3 Mark, Hose 5Mark und eine neue Herrenweste hab ich auch ergattert. Will doch schick sein, wenn ich am Montag vielleicht den wichtigsten Schritt in mein zukünftiges Arbeitsleben wage.“
Karl grinste süffisant. „Die Altkleiderkammer der Arbeiterwohlfahrt. Die Nummer 1 im Punkto guter Geschmack. Bist du dir sicher, dass du die richtigen Fummel für Montag hast?“

„Jetzt hör dir den Spießer an! Schüttet sich Flaschenweise Parfüm über die Klamotten und will anderen was von gutem Geschmack erzählen!“
„Willst du mir damit was Bestimmtes sagen?“
„Ja, ich will damit sagen, dass ich Lippis Sachen cool finde und du dir die Klugscheißerei sparen kannst!“
„Aber das war doch nur ein Witz!“
„Dann mach das nächste Mal Witze, die man auch verstehen kann!“
„Du bist wohl immer noch sauer wegen gestern Abend?“
„Wenn du es genau wissen willst, ja!
„Jetzt reicht es aber! Ich hab mich doch bei dir entschuldigt. Was willst du denn noch?“

„Was ich will? Ich will, dass der gnädige Herr endlich mal seinen Arsch hebt und sich an der Hausarbeit beteiligt. Deine scheiß Stinkklamotten liegen immer noch verstreut am Boden. Du würdest dir keinen abbrechen, sie selbst in die Waschmaschine zu stecken. Oder glaubst du, es genügt, wenn du deinen Mief mit einer neuen Ladung Parfüm überdeckst?“
„ Ach ja, vor ein paar Tagen fandest du meinen Duft noch erotisch. Jetzt auf einmal stink ich dir. Weißt du was, stopf doch selber die scheiß Wäsche in die Waschmaschine. Und vergiss nicht dein glückliches stinkfreies Biowaschmittel reinzukippen. Ach noch eines. Ich besitze noch ein weißes T-Shirt. Das kannst du bei der Gelegenheit auch gleich mit verfärben. Wie wäre es mit Emanzenrosa? “
Die Zeichen standen auf Sturm. Ich stand da, betrachtete die tiefe Zornesfalte, die sich auf Moni`s Stirn gebildet hatte und wusste, dass es höchste Zeit war sich aus der Schusslinie zu entfernen. Gleich würde sie tief Luft holen um ihm lautstark und wild gestikulierend ihren Standpunkt klar zu machen. Er nicht minder erregt würde mit hochrotem Kopf dagegenhalten und vielleicht zum krönenden Abschluss mit der Faust auf den Tisch schlagen. Ich sah bereits das nächste Bierglas fliegen und beschloss mich zum Wirt an die Theke zu flüchten und mich am Würfelspiel zu beteiligen.

„Hallo Hörbi, Max, Willi, kann ich noch bei euch einsteigen”
„Na klar“, sagte Hörbi und schob mir eine Flasche Bier, die er hinter der Theke hervorgefischt hatte zu. „Es gelten die üblichen Regeln. Der Verlierer zahlt eine Runde Schnaps an alle.“
Zwei Stunden und diverse Würfelrunden später war meine Laune endgültig im Keller. Meine zwei besten Freunde waren, wie vorauszusehen gewesen war, wieder einmal von Hörbi vor die Türe gesetzt worden. Sie waren laut streitend nach Hause gelaufen um irgendwann die Wohnungsklingel abzustellen und sich reumütig in die Arme zu fallen. Vor morgen Mittag würde keiner von beiden ansprechbar sein. Ade du mein gemütlicher Plauderabend. Wohin nun mit meinen spannenden Neuigkeiten? Ich zahlte meine verlorenen Würfelrunden und starrte trübsinnig in meinen leeren Geldbeutel. Der Abend schien gelaufen. So beschloss ich mich in meinem ein Zimmerpalast zu verkriechen und mich in meiner Badewanne zu ersäufen?

Ich trat auf die menschenleere Kopfsteingasse und betrachtete das vertraute Bild. Kleine, windschiefe Fachwerkhäuser säumten die Straßenränder. Doch während sich auf der rechten Seite hell erleuchtet Kneipen aneinander reihten, lagen die Häuser zur linken bereits im Dämmerschlaf. Manchmal erschien mir diese Kulisse wie geschaffen für einen mittelalterlichen Liebesfilm. An diesem Abend kam sie mir nur düster, kalt und einsam vor.

„He Lippi, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Hey Manni, klar! Ich hab dich gar nicht kommen hören.“
„Kein Wunder, du warst ja auch damit beschäftigt Löcher ins Kopfsteinpflaster zu klotzt. Wo hast du denn Moni und Karl gelassen?“
„Wo schon, zu Hause, den letzten Streit aussöhnen.“
„Was schon wieder?“
„Jo Manni! Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir die ewige Streiterei zum Hals raus hängt.
Hörbi wird sich das Theater auch nicht mehr lange mit ansehen. Wenn so eine lebendige, konstruktive Beziehung aussieht, bleib ich lieber allein.“
„Konstruktiv, wer hat denn den Stuss erzählt?“
„Na Moni, in ihrer streitfreien Zeit.“
„So ein Blödsinn! He Lippi, hast du nicht Lust mitzukommen?“
„Hab kein Geld!“
„Brauchst du nicht! Ich treffe mich mit Maddin und Peter und ein paar anderen zum Hasen jagen.“
„Zum was?“
„Hasen jagen im Hofgarten. Komm schon Lippi, das wird sicher lustig“
„Aber ich kenn die anderen doch kaum.“
„Ist doch egal. Kannst sie ja jetzt kennen lernen. Na komm schon!“
Ich sog die milde Nachtluft in tiefen Zügen ein und spürte ein gewisses Prickeln, das mein Stimmungsbarometer wieder in die Höhe trieb. Schulter an Schulter schlenderten wir durch die Fußgängerzone. Vorbei an Scharen chic gekleideter Nachtschwärmer, schnatternden Mädchengruppen und Zweiertrupps amerikanischer Polizisten, die mit eisernen Minen ihre Runden drehten. Manni mit seinen dunkelbraunen Stoppelhaaren und seinem leicht gebeugten wippenden Gang und ich, Philippa Müller, genannt Lippi. Es war Freitag Abend, die Stadt gehörte uns. Wir durchquerten das hell erleuchtete Herrieder Tor. Bewunderten den zum Leitwesen der Stadt schon wieder lila gefärbten Brunnen und schlenderten in Richtung Bahnhof. Vor dem Eingang des Hofgartens hielten wir an. Ein dunkler alles verschlingender Schlund.

„Manni, bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist da jetzt reinzugehen?“
„Klar wart es nur ab. Das wird ein Riesenspaß!“
„Aber es ist stockfinster!“
„Eben, das gehört doch dazu.“

Manni gab mir seine Hand. Sachte, Schritt für Schritt durchquerten wir die Parkanlage. Ich dachte an den grimmigen Hofgartenwächter und seinen nicht minder fiesen Hund. Büsche mutierten hinter meinem Rücken zu Monstern. Der Kies knirschte unter meinen Füßen. Mein Herz raste, drohte bereits meinen Brustkorb zu durchschlagen. Die Orangerie, die tagsüber freundlich und stattlich den Platz schmückte, wirkte gespenstisch. Manni zog mich in einen Seitenweg. „Das nicht auch noch! Du willst doch nicht etwa zum Denkmal?“
Klaro! Es gibt fast nichts Schöneres als Nachts unter dem guten alten Kaspar zu sitzen und ne Tüte zu rauchen.“
„Mann, Manni, was ist das für ein Scheiß? Ich hab jetzt echt keinen Bock an dem blöden Denkmal herumzuhängen und mir vorzustellen wie der Kaspar da erstochen worden ist!“
Krieg dich ein! Wir treffen dort nur die anderen und gehen dann später zu Martin, Fete feiern. Aber zuerst ist Hasenjagen angesagt.“
„Also gut, dann ab zum Denkmal. He Manni, ich höre Stimmen.“
„Gut, dann sind wir gleich da.“
Noch ein Linksschwenk. Wenige Meter später zeichneten sich Schemen in der Dunkelheit ab. Ich atmete tief ein. Ein leichter Grasgeruch lag in der Luft.
„He Maddin, ich dachte ihr wartet auf mich!“
Hi Manni, wen hast du dabei?“
Ach das ist Lippi, ne gute Freundin von mir.“
„Lippi, die kenn ich vom Sehen.“

Die Schemen schälten sich aus der Dunkelheit und nahmen klare Gestalt an. Vor mir das steinerne Kaspar Hauser Denkmal. Darunter zwei Gestalten und ein Lichtpunkt. Maddin war leicht zu erkennen. Wie immer trug er seine alberne Sonnenbrille, die in der Dunkelheit den kleinen glimmenden Lichtpunkt der Tüte wiederspiegelte. Neben ihm lümmelte Peter, dessen beachtlicher Bierbauch dem Nachthimmel entgegenragte.
Der Lichtpunkt kam auf mich zugeschwebt.
„Hi Schwester, heute ist Glühwürmchenparty, magst du mal ziehen!“
„Aber logisch!“, hörte ich mich krampfhaft locker antworten und nahm hektisch mehrere tiefe Züge. Der Rauch brannte im Hals. Die Wirkung lies nicht lange auf sich warten. Ein heftiger Schlag gegen die Innenseite meiner Schädeldecke schleuderte mich aus Raum und Zeit. Kichernd gab ich meinen Puddingbeinen nach und ließ mich neben Maddin nieder. “Sachte Schwester, der Dope ist nicht von schlechten Eltern!“
„Ha-scho-gmegd“

War der eigenartige Fleischklumpen in meinem Mund meine Zunge? Egal! „He, hat mir irgendwer ne Taucherbrille aufgesetzt? Schieb gerade ne intergalaktische Tunneloptik!“ Auch egal!
Selbst die Kälte, die unentwegt an meinen Beinen heraufkroch und sie langsam zu Eis erstarren lies war völlig belanglos. Stattdessen zogen mich die erstaunlichsten Entdeckungen in ihren Bann. Die Erkenntnis, dass ich wie eine Bekloppte am Boden lag und sinnentleerte Sätze vor mich hinstammelte löste sich im Bruchteil einer Sekunde in kleine blauschimmernde Tautropfen auf und entschwebte. Auch die Mutter aller Fragen: „Sind Ameisenstaaten faschistisch?“, zerbröselte in meinem Hirn zu Sternenstaub und entfleuchte. Peters Bauch zu meiner linken stellte alles in den Schatten. In Windeseile schwoll er an. Drohte den Hosenknopf abzusprengen. Immer weiter schob sich die nackte Haut unter dem Pullover hervor. Meine Phantasie überschlug sich. „Vorsicht Peter, sonst sprengt es deinen Bauchnabel heraus und du zischt wie ein Luftballon ab, pfff…“
„Jo, Schwester!“

Maddin war ein Stück näher an mich heran gerutscht und grinste mich an.
„He Lippi, cool, dass de da bist! Wollte dich eh schon länger mal kennen lernen. Aber du hängst ja immer mit der überdrehten Emanze und ihrem Macker rum. Da hatte ich keine Lust dich anzuquatschen.“
„Oh Moni und Karl. Macker und Emanze, Emanze ohne h!“
Erde tu dich auf und verschlinge mich! Ich lachte und lachte und hatte das Gefühl, dass mein Gesicht immer mehr entgleiste. Maddin schien es nicht zu stören. Niemand schien es zu stören. Alle um mich herum lachten. Maddin, der Mount Everest, Manni, der inzwischen ebenfalls am Boden gelandet war und selbst der gute alte Kaspar schien im Schein der Taschenlampe lachend hin und herzuschwanken.
Taschenlampe?! Ich rieb mir die Augen. Vor mir schwebte ein rosa Mondgesicht, dass mich mit hervorquellenden Augen anstarrte und eine Taschenlampe in der Hand hielt. „Verdammt, der Hofgartenaufseher!“

Maddin war als erstes auf den Beinen und packte mich am Arm. „Los Lippi, renn!“
„Hasenjagd!“, hörte ich Manni johlen. Auch Peter hatte sich in Bewegung gesetzt. Ich rannte, stolperte, japste nach Luft und krallte mich dankbar an Martins Arm, der mich immer weiter mit sich zog. „Halt, bleiben Sie stehen, ich hole die Polizei!“, schrie das Mondgesicht und polterte uns mit schweren Schritten hinterher. Ich spürte den Kies unter meinen Füßen aufspritzen und rannte so schnell ich konnte den Hauptweg Richtung Ausgang entlang. Peter war hinter uns in einen Seitenweg abgebogen. „Hasenjagd!“, rief Manni, der vor mir rannte und urplötzlich ins Gebüsch sprang. „Bleiben Sie augenblicklich stehen!“, brüllte der Aufseher hinter uns. Maddin zog mich in einen weiteren Seitengang. Ich rannte und spürte, wie sich meine Waden verkrampften. „Maddin, ich kann nicht mehr!“

„Halt durch Baby, wir haben es fast geschafft!“
„Scheiß Hasenjagd!“
„Komm schon Schwester, nur noch um die Ecke und dann über den Zaun.“
Ich rannte, rang nach Luft, spürte meinen Herzschlag, der mir beinahe das Trommelfell durchschlug und hievte mich schnaubend über den Zaun.
„Fuck Hasenjagd, fuck Idee, fuck Aufseher!“
Maddin, der leichtfüßig über den Zaun geklettert war zog mich ein Stück weiter und brach in schallendes Gelächter aus.
„Man Schwester, was für ein Glück! Er hat heute anscheinend seinen Köter zu Hause gelassen. Sonst wäre die Sache sicher anders ausgegangen.“
Ich fühlte mich schlagartig stocknüchtern.
„Habt ihr so was schon öfter erlebt?“
„Jo, ist eine Art Volkssport. Wir treiben uns am Denkmal herum, er kommt und droht. Dann rennt er uns nach bis zur Parkgrenze. Außerhalb kann er uns nichts anhaben. Zugegeben, diesmal war es schon ziemlich knapp. Sollten vielleicht mal für ein paar Wochen Pause einlegen.“
Maddin lachte und umarmte mich. „Man Lippi, du fühlst dich eiskalt an. Komm mit, in meiner Bude ist es warm!“
„Was ist mit den anderen?“
„Ach, mach dir um die keine Sorgen. Bisher hat er noch nie einen erwischt. Ich glaube der alte Sack hat sogar Angst wirklich jemanden zu fangen. Der brüllt nur gerne. Die anderen kommen sicher später nach.“
Maddin streckte mir seine Hand entgegen. „Komm schon Baby, Party machen!“